Rez. Uransklaven oder Sonnensucher? Die sowj. AG Wismut in d

Dieses Forum dient dem Austausch über Literatur mit bergmännischem Bezug. Suchanfragen, Rezensionen oder Kurzkritiken sind hier erwünscht.
Antworten
Benutzeravatar
kapl
Foren-Profi
Beiträge: 2875
Registriert: Do. 01. Aug 02 0:00
Name: Karsten Plewnia
Wohnort: Ruhrstadt Essen
Kontaktdaten:

Beitrag von kapl »

Engeln, Ralf: Uransklaven oder Sonnensucher? Die sowjetische
Aktiengesellschaft Wismut in der SBZ/DDR 1946-1953 (= Veröffentlichungen
des Instituts für soziale Bewegungen A, Darstellungen 19). Essen:
Klartext Verlag 2001. ISBN 3-88474-988-9; 297 S.; EUR 37,90.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Burghard Ciesla
E-Mail: <Ciesla97@aol.com>

Bis 1990 wurden im Osten Deutschlands 221.000 Tonnen Uran gefördert. Die
DDR gehörte damit nach den USA (bis 1990: 330.000 Tonnen) und Kanada
(bis 1990: 231.000 Tonnen) zu den bedeutendsten Uranproduzenten der
Welt. Begonnen hatte alles 1946: Eine Einheit des sowjetischen
Geheimdienstes
begann im Erzgebirge mit dem Abbau von Uran. Am 10. Mai 1947 kam es
durch eine Verordnung des Ministerrates der UdSSR schließlich zur
Bildung der Aktiengesellschaft (AG) Wismut. Die Bezeichnung nach dem
eher harmlosen Element "Wismut" diente lediglich der Tarnung und sollte
die eigentliche Aufgabe des Unternehmens verschleiern. Die AG Wismut
besaß für die Absicherung der sowjetischen Atomrüstung höchste
strategische Priorität und nahm von Anfang an eine Sonderstellung ein.
In der Anfangsphase trug die Organisation des Uranbergbaus Züge des
sowjetischen Straflagersystems (Gulag), aber sehr bald trat das
Repressivsystem mehr und mehr in den Hintergrund, da durch
Zwangsmaßnahmen die erhofften Produktionsleistungen nicht durchgesetzt
werden konnten. Der sowjetische Einfluss blieb bis zum Ende der DDR
bestimmend.

Diese Anfangsgeschichte des Unternehmens erzählt der Bochumer
Wirtschaftshistoriker und freie Journalist Ralf Engeln. Auf der Basis
von Aktenbeständen des Bundesarchivs, der Stiftung Archiv der Parteien
und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv sowie des Staatsarchivs
Dresden legt Engeln eine detaillierte und den Forschungsstand
bereichernde sozial- und wirtschaftshistorische Studie über den
Uranbergbau in der SBZ/DDR zwischen 1946 und 1953 vor. Er ergänzt das
Quellenmaterial mit Zeitzeugeninterviews und beendet seine Untersuchung
mit der Umwandlung der AG Wismut in eine gemischte Sowjetisch-Deutsche
Aktiengesellschaft ab 1954.

Das Buch gliedert sich in drei Hauptteile:
Im ersten Teil ("Der Krieg als Vater des Strukturwandels": S. 25-58)
skizziert Engeln die Geschichte des Uranbergbaus, die Grundlinien der
Atomforschung und die Entwicklungsgeschichte der ersten Atombomben in
den USA und der Sowjetunion. Hiervon ausgehend wird auf die Entstehung
der Uranförderung im Süden der SBZ/DDR eingegangen und erläutert, welche
außerordentliche Bedeutung die Uranförderung im Erzgebirge, Thüringen
und im Vogtland für die Nuklearrüstung der Sowjetunion erlangte.
Immerhin lag der Anteil des von der AG Wismut geförderten Urans am
gesamten Uranaufkommen des sowjetischen Machtbereiches (neben der
Sowjetunion selbst, der Tschechoslowakei, Polen und Bulgarien) zwischen
1947 und 1950 bei 70 bis 75 Prozent. Doch dafür musste die SBZ/DDR einen
immensen Preis zahlen, da die AG Wismut als Reparationsbetrieb entstand
und die Kosten für den Uranbergbau die Deutschen allein zu tragen
hatten.

Danach werden von Engeln die Grundzüge der Unternehmensgeschichte der AG
Wismut aufgezeigt. Ein erstaunliches betriebliches Gebilde nach dem
Muster eines planwirtschaftlichen Riesenkombinates tritt hervor: Neben
den eigentlichen Abbau- und Aufbereitungsbetrieben gab es zahlreiche
Betriebe für Bergwerksanlagen, für verschiedenste technische
Ausrüstungen, Bergarbeiterbekleidung bis hin zu Wohnungsbaubetrieben.
Beinahe alles, was das Unternehmen benötigte, konnte in den zur Wismut
gehörenden Betrieben hergestellt werden. Dazu kamen eine wismuteigene
Polizei, eine eigene Gerichtsbarkeit, eine auf das Unternehmen
ausgerichtete Infrastruktur, eine Handelsorganisation, ein Feriendienst,
soziale Einrichtungen und eine Wismut-Sozialversicherungskasse. Nicht
von ungefähr nannte der Volksmund die AG Wismut sehr bald einen "Staat
im Staate".

Der zweite Teil ("Uransklaven und Sonnensucher": S. 61-145) fokussiert
die Rekrutierung von Arbeitskräften für den Uranbergbau und die
Beschäftigtenentwicklung im Unternehmen. In diesem Teil werden sowohl
die erheblichen Belastungen des Arbeitsmarktes in der SBZ/DDR untersucht
als auch die Auswirkungen des Arbeitskräftetransfers im ursprünglich
ländlichen Ausdehnungsgebiet der Uranförderung aufgezeigt. Die
Rekrutierung der Arbeitskräfte für die AG Wismut nahm vor allem sehr
schnell eine gesamtzonale Dimension an und der Uranbergbau "entwickelte
sich zum größten Industrialisierungsprojekt nicht nur der SBZ/DDR,
sondern ganz Deutschlands seit dem Aufschwung des Ruhrgebietes im
vergangenen Jahrhundert" (S. 144). Immerhin waren am Ende der vierziger
Jahre mehr als 200.000 Menschen im Uranbergbau beschäftigt. Diese Zahl
verdeutlicht aber auch exemplarisch, dass sich der Uranbergbau zu einem
irrationalen Störfaktor für den gesamten ostdeutschen Arbeitsmarkt
entwickelte. Die Zwangseinweisungen von Arbeitskräften in den ersten
Jahren des Bestehens der AG Wismut wurden von Seiten des Unternehmens
zudem sehr bald als kontraproduktiv angesehen. Vielmehr suchten die
Werber motivierte Arbeitskräfte und vor allem Fachleute. Zu diesem Zweck
kam es ab 1948 zur Reduzierung des Einsatzes von Zwangsinstrumenten, und
es wurden verstärkt lohnpolitische Anreize und andere Vergünstigungen
geboten. Einen großen Anteil an den Beschäftigten hatten Vertriebene und
Heimkehrer, deren berufliche und soziale Integration im Uranbergbau
schneller als andernorts in der SBZ/DDR erfolgte. Ohne die Vertriebenen
und heimatlosen Heimkehrer, so Engeln, wäre der Uranbergbau im Osten
Deutschlands nicht oder nur als riesiges Straflager nach sowjetischem
Vorbild (Gulag) denkbar gewesen.

Im dritten Teil des Buches ("Staat im Staate": S. 149-260) widmet sich
der Autor den innerbetrieblichen Beziehungen in der AG Wismut zwischen
1946 und 1953. Seine wesentlichen Forschungsfragen lauten: Welche Rolle
spielten die SED, die Gewerkschaft und staatliche Institutionen?
Inwieweit konnten die Beschäftigten ihre Interessen direkt vertreten?
Wie entwickelten sich die Arbeits- und Lebensbedingungen sowie die
Standards im Arbeits- und Gesundheitsschutz? Davon ausgehend untersucht
er besonders die Entwicklungsprozesse im Bereich der Lohnpolitik und der
Wettbewerbsbewegung. In diesem Zusammenhang behandelt Engeln auch die
Rolle der Betriebsräte und die Eskalation des Lohnkampfes im Rahmen der
Ereignisse des Aufstandes vom 17. Juni 1953.

Was die sozialpolitischen Maßnahmen betrifft, zeigt der Autor, wie sich
seit dem Ende der vierziger Jahre in diesem Bereich beachtliche
Entwicklungen vollzogen. Neben dem Feriendienst wurden beispielsweise
gezielt Mittel in die medizinische Versorgung gesteckt. Gab es 1948, dem
Jahr der Gründung der Sozialversicherungskasse der AG Wismut, zwei
Polikliniken und fünf Ambulatorien, so hatte sich deren Zahl im Jahre
1952 auf 16 Polikliniken, 15 Ambulatorien und neun
Bergarbeiterkrankenhäuser erhöht (S. 166). Die verstärkte Eröffnung
solcher Einrichtungen deutet aber zugleich auf noch ganz andere
Probleme: Den Umgang mit radioaktiver Strahlung und die mangelnde
Arbeitssicherheit. Massenunfälle waren in den frühen Jahren an der
Tagesordnung. Darüber hinaus wurde auf der Jagd nach Spitzenleistungen
an gesundheitsschädigenden Produktionspraktiken wie dem Trockenbohren
(Staubentwicklung) festgehalten. Als man letzteres Mitte der fünfziger
Jahre verbot, war es für viele Bergleute längst zu spät: Von den bekannt
gewordenen 8.000 Bronchialkarzinomfällen ging der überwiegende Teil auf
die unzureichende Grubenbewetterung in den Anfangsjahren des
Uranbergbaus zurück (S. 247-253).

Freilich erscheint manche Einschätzung von Ralf Engeln als überzogen. In
den Schlussbetrachtungen geht er beispielsweise noch einmal auf die
Rolle des Generaldirektors der AG Wismut Michail Mitrofanowitsch Malzew
(1946-1952) ein und bemerkt: "Malzew besaß die nötigen Referenzen, die
aus der Sowjetunion nach Deutschland exportierte Tonnenideologie im
Uranbergbau umzusetzen." (S. 261) Ohne Zweifel stellt die
"Tonnenideologie" ein grundlegendes Problem des klassischen
planwirtschaftlichen Systems dar, aber gerade im Uranbergbau war die
Abrechnung nach Tonnen oder das "Denken" in Tonnen sozusagen eine
produktions- und bilanztechnische Grundvoraussetzung. Mit anderen
Worten, mitunter schießt der Verfasser mit seinem theoretischen Anspruch
über das Ziel hinaus.

Hinsichtlich der in der Einleitung gestellten Fragen wäre weniger wohl
auch besser gewesen. Bei folgender Frage hatte der Rezensent jedenfalls
Schwierigkeiten bei einer Deutung: "Gab es in den Aufbaujahren die
Voraussetzungen und den Willen der Beteiligten zu einer die Interessen
der sowjetischen Leitung an der Produktionssteigerung und der
Produktivitätserhöhung mit denen der Werktätigen an der Verbesserung
ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen zusammenführenden Politik von SED
und FDGB?" (S. 9)

Zudem soll auf zwei kleine Fehler gleich auf der ersten Seite der
Einleitung hingewiesen werden, die bei einer Überarbeitung verbessert
werden sollten: Die Worte Otto Hahns beziehen sich auf den sowjetischen
A-Bombentest im August 1949 und nicht wie angegeben auf 1948. Darüber
hinaus wird in Anmerkung 1 erwähnt, dass die ersten SAG 1947 entstanden.
Hier muss es wohl 1946 heißen. Freilich verwendet der Autor in den
darauf folgenden Seiten die richtigen Daten.

Zudem bleibt Ralf Engeln die Erklärung schuldig, warum er im Titel den
Begriff "Sonnensucher" benutzt. Er erwähnt zwar auf Seite 10 den
gleichnamigen Film des DEFA-Regisseurs Konrad Wolf und äußert sich in
wenigen Sätzen dazu, aber gerade eine etwas ausführlichere
Auseinandersetzung mit diesem Film hätte dem Buch sicher nicht
geschadet, zumal der Film eine Reihe interessanter und anregender
Diskussionspunkte im Hinblick auf die Thematik des Buches bietet.

Insgesamt liegt eine gelungene Arbeit vor, die sicher sowohl eine
freundliche Aufnahme als auch eine gute Resonanz finden wird.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Michael Lemke <lemkem@geschichte.hu-berlin.de>

------------------------------------------------------------------------
Copyright (c) 2002 by H-SOZ-U-KULT (H-NET), all rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit
is given to the author and the list.
For other permission, please contact H-SOZ-U-KULT@H-NET.MSU.EDU.


Falls Sie Bücher für H-SOZ-U-KULT rezensieren oder hierfür Vorschläge
unterbreiten möchten, schreiben Sie bitte an:
Vera Ziegeldorf <ziegeldorfvera@geschichte.hu-berlin.de>

________________________________________________
HUMANITIES - SOZIAL- UND KULTURGESCHICHTE
H-SOZ-U-KULT@H-NET.MSU.EDU
Redaktion:
Email: hsk.redaktion@geschichte.hu-berlin.de
WWW: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de
________________________________________________
Antworten